Geisteswissenschaften oder die Kunst des Verstehens
Geisteswissenschaften sind am besten im Gegensatz zu den Naturwissenschaften zu sehen. Während man in den Naturwissenschaften natürliche Vorgänge mit quantitativen Methoden empirisch untersucht, so geht es in den Geisteswissenschaften um das qualitative Verstehen von Gedankengebäuden, die die menschliche Vernunft hervorgebracht hat. Die Königin der Geisteswissenschaften ist die Philosophie.
Zu den typischen Geisteswissenschaften gehören ebenso die Geschichtswissenschaft, die Religionswissenschaft, die Sprachwissenschaft und die Kunstwissenschaft. Im Zuge des enormen Erfolgs der Naturwissenschaften können sich aber in all den Geisteswissenschaften Ansätze zu einer naturwissenschaftlichen Arbeitsweise finden. Wenn in der Geschichtswissenschaft historische Fundstücke in großem Umfang gesammelt und dann mit statistischen Methoden ausgewertet werden, so ist der Gegenstand geisteswissenschaftlich, die Methodik aber naturwissenschaftlich. Auch in der Religions- oder in der Kunstwissenschaft kommen beim Zusammenfügen alter archäologischer Funde ebenso naturwissenschaftliche Methoden zum Einsatz. In den Sprachwissenschaften ist es am ehesten die angewandte Linguistik, die mit einem quantitativ-empirischen Methodenapparat arbeitet.
Dennoch haben die Geisteswissenschaften anders als die Naturwissenschaften auch denjenigen Studenten, die lieber qualitativ und weniger gern quantitativ denken, etwas zu bieten. Der Mensch ist fähig, die von anderen Menschen hervorgebrachten Schöpfungen des Geistes zu verstehen. So ein Versuch des Verstehen führt auch automatisch zu einem Interesse für fremde Kulturen, fremde Persönlichkeiten und Fremdes überhaupt.
Gerade in der Literaturwissenschaft kann diese Neugierde auf andere Weltanschauungsweisen gut gestillt werden. Demut und Geduld ist notwendig, wenn man etwa die Weltsicht eines völlig fremden Buchautors verstehen will und diese dann in einer Inhaltsangabe wiedergeben möchte. Man will es schaffen, sich von seinem eigenen, oft selbstverständlich gewordenen Standpunkt zu lösen, um in die Welt und Betrachtungsweise des jeweils Anderen einzudringen.
Die Geisteswissenschaften arbeiten am Selbstverständnis des Menschen. Das von Geisteswissenschaften entworfene Bild des Menschen enthält alle zur Kultur und Arbeit gehörenden Aspekte und trägt somit dazu bei, die Entwicklungsrichtung der Gesellschaft zu diskutieren und zu problematisieren. Oft spalten sich daher die Geisteswissenschaftler in zwei Lager: Modernisierer und Konservative. Sind die radikalen technischen Umwälzungen in den gesellschaftlichen Produktionsprozessen ein Licht der Hoffnung oder eine Bedrohung für die Gesellschaft? Solche Fragen werden in den Geisteswissenschaften diskutiert, die so eine den Naturwissenschaften etwas entgegengesetzte Wissenschaftskultur bilden. Tatsächlich werden Geistes- und Naturwissenschaften oft als zwei unterschiedliche akademische Kulturen erachtet. Die kulturellen Differenzen reichen bis in die Strukturierung der Hausarbeiten und Seminarvorträge hinein. Dominieren in den Naturwissenschaften die Statistik und die Ergebnisse, so spielen in den Geisteswissenschaften umfangreiche Literatursammlungen und exegetische Auslegungen eine größere Rolle.